Immer ein klarer Durchblick
Presseartikel der Erfurter Allgemeine am 7.10.2005 von Michael KELLER
Die Bauglaserei Birnstiel in Hochheim feiert morgen ihr 1OO-jähriges Firmenjubiläum
Heute und morgen wird bei Familie Birnstiel in Hochheim gefeiert. Im Hof der Glaser-Werkstatt wartet ein Zelt auf die große Gästeschar. Denn es gibt gleich zwei wichtige Anlässe. Heute wird Firmenchef Dieter Birnstiel 70, morgen begeht man das 100-jährige Bestehen des Familienbetriebes.
Angefangen hat alles in Schmira. Damals, 1905. Ein gewisser Albin Birnstiel gründete eine Firma, eine Bauglaserei. Ob er sich damals wohl hätte denken können, dass diese zwei Weltkriege und große politische Veränderungen überleben würde? Ganz sicher nicht. Bis 1934 blieb Albin Birnstiel in seiner Schmiraer Werkstatt. Inzwischen war aber auch sein Sohn Artur in die beruflichen Fußstapfen des Vaters getreten und Glaser geworden. Ihn zog es indes nach Höchheim, wo er sich 1927 als Handwerker niederließ. Sieben Jahre arbeiteten Vater und Sohn getrennt, erledigten Großaufträge für die Reichsbahn, Raiffeisen, das Malzwerk, Bauunternehmer. Dann legten beide ihre Werkstätten zusammen und waren von da an nur noch in Hochheim anzutreffen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Am Bache 14 prangt immer noch weithin sichtbar das bekannte Firmenschild. Dieter Birnstiel, der heute 70 wird, wollte eigentlich Gärtner werden, konnte aber 1950, kurz bevor er die Lehre begann, vom Vater für das Glaserhandwerk überzeugt werden. „Ein Schritt, den ich nie bereut habe“, sagt er, auch wenn er, nachdem er 1966 die väterliche Firma übernahm, dann zu DDR-Zeiten unter den berüchtigten Materialkontingentierungen zu leiden hatte, obwohl man einen Auftragsvorlauf von fünf bis acht Jahren (!) in den Büchern hatte. Unterkriegen ließ man sich nicht und auch den politischen Umbruch überstand man 1989 geschäftlich unbeschadet. In seinem langen Berufsleben hat sich Dieter Birnstiel das unumgängliche Feingefühl für das brüchige Material angeeignet und auch das entsprechende Wissen. Es reicht nämlich nicht, zu wissen, dass Glas eigentlich aus Quarzsand; Pottasche und Soda besteht Man muss auch die richtigen Tricks kennen, um es an der gewünschten Stelle zum Brechen zu bringen. „Der richtige Trick besteht darin, die Oberflächenspannung des Glases zu überwinden, in dem man es anritzt“, verrät der Glaser. Was so leicht klingt, ist so schwer zu machen. Hobbyhandwerker werden wissen, was gemeint ist. Für die Birnstiels ist es hingegen tägliche Routine. Denn inzwischen sind Sohn Michael (28), Tochter Anett (31) und Ehefrau Hildegard, die Buchhalterin und gute Seele; fester Bestandteil der Firma. Glas gehört bei Birnstiels quasi zum täglichen Leben. Auch wenn die Geschäfte wegen der allgegenwärtigen Wirtschaftsflaute derzeit nicht gerade florieren, ab dem nächsten Jahr soll Sohn Michael die Glaserei in der mittlerweile vierten Generation übernehmen und weiterführen. . Schaufenster, normale Fenster, Türen, Glasdächer, wenn’s sein soll, auch Aquarien, alles Gläserne ist bei Birnstiels in den richtigen Händen. Erst recht, wenn es um Bleiverglasungen geht, denn auf die hat sich Tochter Annet spezialisiert. Von ihrem handwerklichen Geschick zeugt ein monumentales, mehrteiliges Fenster im elterlichen Wohnhaus. Es verwundert so kaum, dass in Erfurt schon einige bekannte Gebäude durch ihr Können verschönt wurden. Die Rathausfenster in der ersten Etage zum Beispiel, der kniffligste Auftrag nach der Wende. Oder das Kommandantenhaus und das Pulvermagazin auf der Zitadelle Petersberg, die kleine Studentenburse hinter der Krämerbrücke. Alles in Zeiten freilich, als es noch Aufträge satt gab. Bis 1999 beschäftigte man beispielsweise noch elf Mitarbeiter und bildete darüber hinaus sogar noch drei Lehrlinge aus. „Doch der große Bauboom ist längst Geschichte und die Leute halten derzeit ihr Geld fest“ sagt der Chef. Kein Grund aber für ihn und seine Familie, etwa zu resignieren oder gar zu klagen. Denn Glas gibt‘s schon seit den alten Ägyptern und ein klarer Durchblick ist schließlich zu allen Zeiten immer etwas wert gewesen. Heute, wie damals.